Was Recht ist

(05.12.2020) Diese Namen wecken in mir Erinnerungen: Danckelmann, Degenhart, Heinrichs, Keidel, Lauterbach, Putzo und Thomas. Erinnerungen an durchgearbeitete Nächte, in denen ich mit meiner klapprigen Schreibmaschine die Namen in die Fußnoten zu den Hausarbeiten für die Pflichtscheine im BGB hämmern musste. Sie waren die Bearbeiter der 29. Auflage des „Palandt“, der ersten, die ich gekauft habe. Ich wusste nicht viel über sie, damals. Alles Männer übrigens.

Heute kam die 80. Auflage des „Palandt“ vom Buchhändler. Von den alten Namen ist keiner mehr dabei. Wie auch, fünfzig Jahre später?

Jedes Jahr zum Beginn der Adventszeit erscheint eine neue Auflage dieses Standardkommentars zum BGB  – zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom 18. August 1896, aber in dessen aktuellster Fassung. Dicker als die Bibel. 3200 Seiten, drei Millionen Worte. Ein Buch, ohne das in Deutschland keine juristische Bibliothek, kein Anwalt, kein Richter, kein Jurastudent auskommt. Jedes Jahr erfordert eine neue Kommentierung. Jedes Jahr fügen neue Kommentatoren (darunter inzwischen zwei Frauen), gesellschaftliche Entwicklungen, Gesetzesnovellen, neue Grundsatzurteile oder juristische Innovationen wie Prozessfinanzierung und Legaltech, neue regelungsbedürftige Sachverhalte wie CoVid19, die Informationstechnologie, die Elektromobilität eine neue Schicht hinzu wie ein neues Erdzeitalter einer geologischen Formation, ihren Mineralien und Fossilien. Das Gewicht des Neuen presst das Alte zusammen. Versteinert es oder zerstäubt es. Fast wie im richtigen Leben.

Zu den Schichten gehört auch die Zeit, in der „der Palandt“ entstand. Nämlich im Jahr 1938. Herausgeber war Otto Palandt, damals Leiter des Reichsjustizprüfungsamtes, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den deutschen juristischen Nachwuchs im Sinne des Nationalsozialismus auszubilden. Männer übrigens, Frauen hielt Palandt für ungeeignet, das Recht im Sinne des Führers zu wahren. Auch die Namen Danckelmann, Keidel und Lauterbach standen für Justizkarrieren im Dritten Reich. Karrieren, die sich ebenso stromlinienförmig und kaum gebrochen in der Bundesrepublik fortsetzten wie sich der Name Palandt bis in die heutige Zeit gerettet hat.

Eigene Meinungen vertritt „der Palandt“ seit der Nazizeit nicht mehr. Für den Juristen fasst er zuverlässig, knapp und schnell auffindbar das zusammen, was der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte zu den Fragen entschieden haben, die das Gesetz nicht eindeutig beantwortet. Richter richten nach dem, was im Palandt steht, weil sie nicht wollen, dass ihre Urteile von den Obergerichten wieder aufgehoben werden. Anwälte richten sich nach dem, was „im Palandt“ steht, weil sie ihren Mandanten die Rechtslage erklären müssen. Denn die Rechtslage ist das, was das Gericht wahrscheinlich über ihren Fall urteilen wird.

Oliver Wendell Holmes (1841-1935, lange Jahre Richter am Supreme Court of the United States): Recht ist nichts anderes als eine Prognose darüber, was ein Gericht entscheiden wird.

Was ist das Recht? In Deutschland ist es wohl vor allem „der Palandt“.


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