Archiv für Januar 2014

Keine Makulatur

(31.01.2014) „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“, so spottete der Staatsanwalt Julius von Kirchmann  in seinem berühmten Vortrag „Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ 1847 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin.

Die Strafprozessordnung (StPO) ist am 1. Februar 1877 in Kraft getreten. 1924 wurden die Geschworenen abgeschafft, aber ansonsten haben die wesentlichen Bestimmungen der StPO Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazizeit und die 17 Legislaturperioden der Bundesrepublik überdauert.  Und das, obwohl einige berichtigende Worte des Gesetzgebers längst überfällig wären. Die Unzulänglichkeiten der StPO waren schon zur Kaiserzeit bekannt und wurden kritisiert. Zum Beispiel in dem 1913 erschienenen Werk „Justizirrtum und Wiederaufnahme“ des Rechtsanwalts Max Alsberg (1877-1933). Obwohl hundert Jahre alt, ist es so aktuell wie ehedem.

Dank der klaren Sprache des Autors ist die Arbeit auch für den Nichtjuristen ohne Probleme verständlich. Die darin geschilderten Fälle stehen den von Ferdinand von Schirach ersonnenen an Absonderlichkeit in nichts nach; ihnen gegenüber  haben sie den Vorteil der Authentizität. Aus dem Kapitel „Die Unvollkommenheit des Rechtsmittels der Revision“, (S. 33 – 46):

Die Konsequenz, die aus der Fehlbarkeit des Richters zu ziehen ist, kann nur eine sein: Das Recht muß die Mittel geben, um ein Urteil, das als irrig zu erweisen ist, zu beseitigen. (…)

Das ist denn auch der Standpunkt, den bereits die Motive zum revidierten Entwurf der Strafprozessordnung für den Preußischen Staat vom Jahre 1841 mit treffenden Worten betont haben. „Daß dem Inquisiten eine Appellation verstattet werde, ist“, so heißt es an der betreffenden Stelle der Motive, „eine unabweisliche Anforderung der Gerechtigkeit, mit welcher es füglich nicht vereinbar ist, die wichtigsten Güter des Menschen, Leben, Ehre und Freiheit, der Ansicht und dem Urteil eines einzigen Gerichtshofs zu überlassen, während für unerhebliche Gegenstände des Vermögens drei Instanzen zulässig sind“. Und doch kennt unser heutiges Recht die Berufung nur in den leichtesten Sachen, in den Sachen, für die das Schöffengericht in erster Instanz zuständig ist. In denjenigen Sachen, die vor den Strafkammern oder den Schwurgerichten in erster Instanz verhandelt werden, ist eine Berufung nicht gegeben. Hier kennt unser Recht und das Rechtsmittel der Revision.

Die Revision ist aber kein Rechtsmittel, das auch nur einigermaßen geeignet ist, der materiellen Wahrheit zum Siege zu verhelfen.

Die Wiederaufnahme, wie Alsberg im Weiteren zeigt, ebensowenig. Nichts, leider, deutet darauf hin, dass diese Sätze demnächst Makulatur werden.

Leider nicht unter Anklage: die Justiz

 

(30.01.2014) Der gestern ausgestrahlte  Fernsehfilm „Unter Anklage. Der Fall Harry Wörz“ war in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmererscheinung. Erstens wurden Anwälte, anders als in den meisten Produktionen, einmal nicht als arrogante, aalglatte und geldgeile Kotzbrocken dargestellt, die zu nichts anderem da sind, als jede Sauerei ihrer Mandanten zu decken.  Zweitens waren die Leistungen der Darsteller herausragend. Drittens offenbar auch die juristische Beratung, denn grobe fachliche Falschdarstellungen waren nicht zu verzeichnen. Und viertens wurde aus atemberaubender Nähe gezeigt, wie schnell jeder (ich wiederhole: jeder) Unbescholtene in die Fänge einer haarsträubend fahrlässig agierenden Justiz geraten und darin untergehen kann.

Die nachfolgende Diskussion bei Anne Will reichte bedauerlicherweise nicht an die Qualitäten des Films heran. Zwar war man sich einig darüber, dass der Fall ein Skandal gewesen sei und so etwas „eigentlich“ nicht passieren dürfte. Das war’s dann aber auch schon. Die Politiker Hertha Däubler-Gmelin und Wolfgang Bosbach schoben sich gegenseitig die Verantwortung für fehlende politische Initiativen zur gerechten Entschädigung von Justizopfern und zur Verbesserung der gesetzlichen Instrumente zur Vermeidung von Justizirrtümern zu, der Richter a.D. Heinrich Gehrke stellte schon durch die Art und Weise, wie er sich in den Sessel lümmelte und jede Äußerung anderer Diskussionsteilnehmer zunächst einmal durch ein überhebliches Grinsen quittierte, eine Provokation des anwesenden Justizopfers Wörz dar, und noch mehr dadurch, dass er meinte, eigentlich wäre doch alles in Ordnung, allenfalls die Entschädigung für Justizopfer sei mit 25 Euro pro Tag unberechtigter Haft wohl etwas gering.  Lediglich der anwesende Anwalt, einer der früheren Verteidiger von Wörz hielt ein wenig dagegen, zeigte jedoch auch nicht auf, welche gravierenden Mängel das Strafverfahren aufweist, die mit relativ einfachen gesetzgeberischen Maßnahmen behoben werden könnten, und die,  wenn sie denn hier Gesetz gewesen wären, das Skandalurteil und die Vernichtung eines Lebens (ähnlich wie in den Fällen von Horst Arnold,  Monika de Montgazon oder Ralf Witte) wahrscheinlich verhindert hätten:

Erster Mangel: Gegen die erstinstanzlichen Urteile bei schweren Straftaten ist keine Berufung möglich, sondern nur die Revision. Das heißt, es gibt gerade bei hohen Strafen keine Instanz, die die  Tatsachenfeststellungen des erstinstanzlichen Gerichts noch einmal nachprüft.  Das führt dazu, dass zwar bei einer Verurteilung wegen Eierdiebstahls das nächsthöhere Gericht noch einmal Zeugen hören, den Tatort besichtigen oder einen Sachverständigen beauftragen kann; bei einer Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen eines Mordvorwurfs kann das Gericht es nicht. Es  kann allenfalls Fehler bei der Rechtsanwendung korrigieren. Um die geht es aber in Fällen wie diesem gar nicht, sondern um die Frage, ob der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat überhaupt begangen hat.

Zweiter Mangel: Anders als im Zivilprozess, in dem es meist nur um schnödes Geld, nicht aber um Freiheit und Leben eines Menschen geht, werden in Strafverfahren vor den Landgerichten (also dort, wo es um die schweren Strafvorwürfe geht) die Zeugenaussagen nicht protokolliert. Sie sind daher auch nicht Grundlage der Überprüfung des Urteils durch die nächste Instanz. Im Zivilprozess verläuft die Zeugenvernehmung so: Der Zeuge berichtet, der Richter wiederholt die Aussage des Zeugen und diktiert sie ins Protokoll und fragt den Zeugen dann noch einmal, ob er die Aussage des Zeugen richtig wiedergegeben habe. Hierdurch wird faktisch ausgeschlossen, dass eine Aussage anders ins Urteil einfließt, als der Zeuge sie gemacht hat. Im Strafprozess dagegen macht sich der Richter lediglich Notizen über die Zeugenaussage. Ob er den Zeugen richtig verstanden hat oder die Aussage so ins Urteil eingeflossen ist, wie sie gemacht wurde, ist jeder späteren Überprüfung entzogen. Zwar kann der Verteidiger einen Antrag auf wörtliche Protokollierung stellen, jedoch wird ein solcher Antrag regelmäßig abgeschmettert. Dieses Manko wirkt sich angesichts dessen, dass die Tatsachenfeststellungen der Richters in der strafrechtlichen Revision nicht mehr überprüft werden, besonders gravierend aus.  Hat im Zivilprozess der Richter einen entscheidungserheblichen Teil einer Zeugenaussage  unberücksichtigt gelassen, so ist dies regelmäßig ein Grund für die nächste Instanz, das Urteil aufzuheben oder abzuändern. Im Strafverfahren wird ein solcher Fehler entweder gar nicht erst erkannt oder er kann nicht berücksichtigt werden, weil das Revisionsgericht den vom Richter festgestellten Sachverhalt als gegeben ansehen muss.

 Dritter Mangel: Dem Gericht liegen in aller Regel die Spurenakten nicht vor, durch deren Kenntnis sich jedoch ein völlig abweichendes Bild des Sachverhalt ergeben kann.  Wird zum Beispiel eine Anklage darauf gestützt, dass dem Täter Daumen und Zeigefinger gefehlt haben müssen, würde sich natürlich der Tatverdacht gegen den zufällig in der Nähe des Tatorts aufgegriffenen Angeklagten, bei dem dies der Fall ist. dadurch vollkommen anders darstellen, wenn man wüsste, dass in der Nähe zwei weitere Männer waren, bei denen diese Finger ebenfalls fehlten.

 Vierter Mangel:  Obwohl zwei der in Frage kommenden Täter Polizisten sind, werden die Ermittlungen durch die örtliche Polizeibehörde durchgeführt, welcher diese Polizisten angehören. Das öffnet jeder Kumpanei und Einseitigkeit der Ermittlungen Tür und Tor.

 Sich als Justizpolitiker oder -angehöriger bei derart gravierenden Mängeln des Strafverfahrens hinzustellen und so zu tun, als wäre es eben Pech, wenn jemand zu Unrecht verurteilt wird, ist blanker Zynismus.  Das ganze verbunden mit der Haftentschädigung von 25 Euro pro Tag erlittener Freiheitsentziehung, die mehr eine Verhöhnung als eine Entschädigung des Justizopfers darstellt. Dafür sei eben kein Geld da, und es fehle auch an dem politischen Druck, hier etwas zu ändern, sagten die beiden anwesenden Politiker.  Eine Anfrage vo Anne Will beim Justizministerium hatte zuvor bestätigt, dass man dies dort „nicht auf dem Zettel“ habe.  Wolfgang Bosbach sagte, es würden im Jahr derzeit 90.000 Hafttage in Deutschland entschädigt. Also knapp über 2 Millionen EUR, die dem Rechtsstaat die Justizopfer wert sind.  Ein Skandal ohnegleichen, angesichts der Milliarden, die anderswo verpulvert werden. Zumal dieser Skandal den bestehenden Zustand auch noch perpetuiert. Kein Justizminister zerbricht sich den Kopf darüber, wie man Justizirrtümer verhindern kann, wenn die Almosen, mit denen Justizopfer verhöhnt werden, billiger sind als die Druckerschwärze, die es brauchte,  ein paar Paragraphen der  Strafprozessordnung zu ändern.