Über Justizthriller. (Fiktive).

(30.11.2016) Mit bestem Dank an Joachim Mols und die Seite www.bestreaders.de:

Der in Tübingen aufgewachsene Lothar Müller Güldemeister hat mit „Uhlandgymnasium“ einen bemerkenswerten Roman über Schuld und Verantwortung geschrieben. Da der in Berlin lebende Autor gleichzeitig als Rechtsanwalt tätig ist, hat Joachim Mols die Gelegenheit ergriffen und mit ihm über das Genre des Justizthrillers gesprochen.

Herr Müller-Güldemeister, gibt es eigentlich deutsche Gerichtsthriller?

Soweit ich das überblicken kann, wird das Genre von deutschen Autoren nur selten bedient. Gibt man bei Amazon oder Google das Stichwort ein, findet man wenig. Teile von Krimis spielen im Gerichtssaal, aber es wird kaum das Gerichtsverfahren oder das Rechtssystem als solches thematisiert wie z.B. in mehreren Romanen von John Grisham oder in Jonathan Harrs Roman „Zivilprozess“. Schirach hat es in „Der Fall Collini“ und in „Tabu“ ein bisschen versucht, aber ich finde beide zu belehrend und dort fehlt mir der Thrill, der noch in seinen Kurzgeschichten zu finden ist. Ein typenreiner Gerichtsthriller ist Andreas Hopperts Roman „Zug um Zug“: das Geschehen wird nicht direkt beschrieben, sondern so, wie es im Rahmen des Gerichtsverfahrens langsam aufgedröselt wird. Ein Erkenntnisprozess, der durch Täuschungen, Selbsttäuschungen, Falschaussagen und Winkelzüge der Prozessbeteiligten immer wieder ins Stocken gerät. Durch die Ökonomie der Darstellung, die immer wieder überraschenden Volten und die juristisch einwandfreie Verarbeitung des Stoffes (Hoppert ist Richter) ein spannendes Lesevergnügen, wenn auch Story und Charaktere ähnlich holzschnittartig geraten sind, wie wir es von John Grisham kennen. Literarisch anspruchsvoller wird die Thematik verarbeitet in Ricarda Huchs „Der Fall Deruga“, auch in Dürrenmatts „Justiz“, Jacob Wassermanns „Der Fall Maurizius“ oder auch in Kafkas „Prozess“. Aber unter Gerichtsthrillern verstehen die meisten Leute wohl etwas anderes.

Tom Rizzo sagte einmal, das Western Genre zeichne sich durch die Gegenüberstellung von Gut und Böse in der reinsten Form aus und genau deswegen würde der Leser dieses Genre lieben. Ich würde nun Ähnliches über den amerikanischen Justizthriller sagen. Gilt das aber auch für deutsche Justiz- oder Gerichtsthriller? Oder wird das deutsche Buch aus anderen Gründen interessant?

Ich habe das Interview gelesen und finde, dass das nur ein Aspekt von mehreren ist, die Tom Rizzo benennt. Der Western zeichnet direkte Gegenüberstellungen von Gut und Böse, das stimmt, aber vor allem die Abwesenheit einer ordnenden Autorität. Das Gesetz und seine Hüter sind weit, jeder muss das Recht selbst in die Hand nehmen. Bzw. das, was er dafür hält. Dabei ist moralisches Urteil des Einzelnen sehr viel mehr gefordert, als in einem allgegenwärtigen Staat, der die Einhaltung moralischer Grundregeln durch Strafgesetze vorschreibt und durchsetzt. Im Übrigen finde ich den Zusammenstoß zwischen einem sehr guten und einem sehr bösen Charakter lange nicht so interessant wie den Konflikt, der sich innerhalb positiver Werte, oft innerhalb einer Person abspielt: wenn sie sich entscheiden muss zwischen Pflicht und Liebe, zwischen Solidarität und Moral, zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Am Gerichtsthriller interessant ist, dass sich der wirklich Böse durch gesetzliche Regeln nicht aufhalten lässt, sondern sie ignoriert oder in seinem Interesse manipuliert. Oder sich gar rechtsförmiger Verfahren bedient wie am Volksgerichtshof oder in den Moskauer Schauprozessen, um schlimmstes Unrecht unter dem Mantel des Rechts zu begehen. Der Gerichtsthriller lebt von der Diskrepanz zwischen der hehren Idee der Gerechtigkeit einerseits, den Unzulänglichkeiten oder dem fehlenden Willen, diese in die Praxis umzusetzen, andererseits. Da sehe ich übrigens keinen Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Gerichtsthriller.

Die letzte Frage habe ich nicht ohne Bedacht gestellt. Wenn ich amerikanische Thriller lese, ist mir als Nichtjurist von rechtlicher Seite schnell alles klar, aber das deutsche Recht scheint mir doch komplizierter zu sein. Ich nenne nur mal die von Ihnen verwendeten Stichwörter „Versäumnisurteil“ oder „Kündigung der Sozietät“. Da wird es für den normalen Leser schon schwieriger. Ist das ein Problem oder glauben Sie an die Fähigkeiten des Erzählers und auch an die Fähigkeit des Lesers?

In dem Punkt der Verständlichkeit sehe ich keinen großen Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Recht. Allerdings sind die Sanktionen in Amerika weit drakonischer -– im Zivil- wie auch im Strafrecht. Da geht es ums Ganze, um Todesstrafe oder um gigantische Schadensersatzbeträge, in der Wirklichkeit wie im Roman. Außerdem ist eine Jury aus Hausfrauen, Buchhaltern und Kfz-Mechanikern, die über Leben und Tod zu entscheiden haben, ein dankbareres Thema für Romanautoren, als es die von staubtrockenen Berufsrichtern dominierten deutschen Gerichte sind. In den USA wiederum ist ein Beklagter verpflichtet, all seine Informationen offenzulegen, während er im deutschen Zivilprozess mauern kann und es manchmal detektivischer Anstrengungen für den Kläger bedarf, seinen Anspruch zu beweisen. Wie z.B. in „Uhlandgymnasium“ nachzulesen. Natürlich muss der Autor eines Gerichtsthrillers solche Thematiken verständlich machen. Aber als Anwalt muss ich ja auch täglich meinen Mandanten, die Nichtjuristen sind, erläutern, warum dies und jenes geht und anderes nicht.

Die amerikanische Kultur tritt im Kino und im Buch gerne als eine „Hopp oder Topp Kultur“ auf. Wenn der Schuldspruch kommt, kommt die Todesstrafe, wenn nicht, ist man ein freier Mann. In Deutschland legt man zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel Wert auf ein differenziertes Urteil. Keiner ist wirklich ganz schuldig, aber eben ganz unschuldig ist auch keiner. (Jedenfalls nicht im Zivilprozess!) Lässt sich der Autor von diesen juristischen Grundsätzen beeinflussen? Gewinnt der deutsche Autor dadurch einen anderen Tiefgang?

Was bei uns als Thriller daherkommt, ob von deutschen, skandinavischen oder amerikanischen Autoren, ist meistens nicht besonders differenziert. Ebensowenig können es dann die Ansprüche der Leser sein. Die wenigsten Autoren, sorry, haben von Juristerei eine Ahnung. Und viele Romane und Filme (einschließlich deutscher Tatort-Produktionen) strotzen vor juristischem Blödsinn. Die Leser scheint es nicht zu interessieren, sie sind mehr an dem Thrill als an realistischen Geschichten interessiert.

Will der Leser eigentlich den von mir angesprochenen Tiefgang? Als es beim Prozess gegen den Bayernpräsidenten Uli Hoeneß immer mehr wurde, schien mir die Öffentlichkeit nicht sonderlich an einer differenzierten Debatte über die Frage, ab wann eine Selbstanzeige, mildernde Umstände etc. gelten, interessiert zu sein. Da wurde ohne jedes Mitleid „Kopf ab!“ gefordert und das war es.

Rechtsanwendung ist wie Politik das täglich neue Bohren dicker, steinharter Bretter. Sie erfordert ein ständiges Abwägen zwischen verschiedenen Rechtsgütern, z.B. dem Strafanspruch des Staates einerseits, dem Schutz des Individuums andererseits, Freiheitsrechten einerseits, dem berechtigten Bedürfnis nach Sicherheit andererseits, Einzelfallgerechtigkeit hier, Schutz des Rechtsverkehrs dort usw. Die Abwägungsprozesse sind oft extrem schwierig. Aber sie gehen leicht im Geschrei der Menge unter, die nach Gefühl entscheidet und zwischen „Hosianna“ und „Kreuziget ihn“ oszilliert. Und die dann eine Justiz, deren Entscheidungen sie nicht versteht, pauschal abqualifiziert oder ihr gleich die Existenzberechtigung abspricht. Aber nicht alle Menschen sind Stammtischbrüder, und die, die täglich „Kopf ab“ fordern, sind sicher nicht die Leser, die Tiefgang in Romanen suchen. Allerdings finde auch ich (ohne gleich „Kopf ab“ zu fordern), dass sich die deutsche Justiz im Fall Hoeness nicht mit Ruhm bekleckert hat.

Recht in juristischer Hinsicht und Recht in moralischer Hinsicht sind oft zwei verschiedene Dinge. In Ihrem Roman „Uhlandgymnasium“ spielt dieser Unterschied zumindest im Hintergrund die entscheidende Rolle. Ist das eigentlich ein Thema der deutschen Juristenausbildung oder sollte es ein Thema der deutschen Juristenausbildung sein? (Sollten Juristen manchmal mehr Belletristik lesen?)

Recht in juristischer und in moralischer Hinsicht sollten keine zwei verschiedenen Dinge sein. Unser ausgeklügeltes Rechtssystem hat zum Ziel und hat das Potential, Moral zu verwirklichen. Es tut dies im Großen und Ganzen mit sehr gutem Erfolg: weitaus mehr Verträge werden eingehalten als gebrochen, weitaus mehr Menschen sterben an Altersschwäche als mit einer Kugel im Kopf. Was Gegenstand der Justiz wird, ist bereits der pathologische Fall. Und nicht jede Behandlung eines pathologischen Falles endet mit einer vollständigen Heilung. Zur zweiten Frage: Ich vermute, dass Juristen mehr Belletristik lesen als Betriebswirte oder Ingenieure, denn die Sprache ist ihr ureigenstes Medium.

Ihr sehr erfolgreicher Schriftsteller Kollege Ferdinand von Schirach ist meines Wissens Strafverteidiger. Da denkt man als Laie: der Beruf gibt literarisch etwas her. Auf Ihrer Website geben Sie folgende Rechtsgebiete als die Ihrigen an: Gesellschaftsrecht der Personengesellschaft, der GmbH und Aktiengesellschaft, Bilanz- und Steuerrecht, Bank- und Leasingrecht, Kapitalanlagerecht, Anwalts-, Notar- und Steuerberaterhaftung, Zivilprozess, Zwangsvollstreckung und Ermittlung wirtschaftlich relevanter Sachverhalte. Machen Sie mir als Laien doch mal jetzt bitte klar, dass da genauso viel Material bei rumkommt wie bei Mord und Totschlag.

Mord und Totschlag kommt nicht von ungefähr, sondern steht häufig am Ende von Gier, Rach- und Habsucht. Und die toben sich zuerst im wirtschaftlichen Kontext aus. Jemanden, dem man Geld schuldet, einen Miterben oder einen unliebsamen Konkurrenten um den Vorstandsposten aus dem Weg zu räumen, liegt nicht fern. Wer von einem ungetreuen Mitgesellschafter aufs Kreuz gelegt, von systematisch arbeitenden Betrügerbanden beschissen, von Anlageberatern über den Tisch gezogen, von Banken zu windigen Kapitalanlagen verleitet worden ist, trägt sich mit Mordgedanken. Literarisch interessant ist ja weniger der Mord an sich, als der lange Weg, der zu ihm führt. Oder der Weg, den der Kriminalist geht: vom Mord zurück zu seinen Motiven. Und der verläuft oft durch das Gestrüpp von Verträgen, Haftungsverhältnissen, Bilanzen, Finanzen, Forderungen und Schulden.


Fließen die Erfahrungen bei Ihnen eigentlich direkt ein oder besser gefragt, kann ein aktueller Fall ein aktuelles Buch beeinflussen oder ist das ganz abhängig vom Sujet und manche Erfahrung kommt erst nach Jahren zum Tragen?

Ich habe ja noch nicht so viele Bücher geschrieben. Das erste, „Der Fall Foris“ ist ein autobiographischer Tatsachenroman. In den weitgehend fiktiven Roman „Uhlandgymnasium“ sind in der Tat ein paar Ideen aus meiner praktischen Tätigkeit eingeflossen. Aber das Zentrale sind für mich ein Charakter und ein Milieu. Beide müssen stimmig sein, und aus der Kombination beider müssen sich zwangsläufig der Konflikt und die Handlung entwickeln. Sonst finde ich es nicht romanesk. Handlungen, die nicht aus dem Charakter der Hauptfigur, sondern aus Zufällen entspringen, berühren mich nicht.


Ihr Roman „Uhlandgymnasium“ hat nun quasi zwei Ebenen. Ein Teil der Handlung spielt in der für jedermann zugänglichen „normalen“ Welt, ein anderer Teil spielt in der juristischen Welt. Wenn Sie nun einen solchen Roman schreiben, vollenden Sie sozusagen erst die Geschichte und machen Sie sie dann juristisch wasserdicht oder denken Sie von vornherein beides zusammen?


Als Jurist ist für mich der Justizalltag ein Teil der Realität. Eine Szenerie, die sich in der Justizrealität so nicht abspielen könnte, kommt mir wahrscheinlich gar nicht erst in den Sinn. Zwar muss ich als ein Autor auch um die Ecke denken, aber Spannung setzt Glaubwürdigkeit voraus. Eine unrealistische Szene bringt vielleicht Lacher, aber keinen Thrill.

Kommen wir noch mal kurz zu Ihrer Kritik am deutschen bzw. tübingischen Rechtssystem. Zwar kennt der Laie den despektierlichen Ausdruck „Rechtsverdreher“, aber ich würde doch sagen, eigentlich glaubt man, überall in Deutschland wird gleich geurteilt. Sie deuten an, es gäbe da durchaus regional unterschiedliche Formen von Klüngel. Stimmt das wirklich oder ist das nur Dramatik (Was ja auch legitim wäre!)?

Richter und Staatsanwälte sind auch nur Menschen, und unter ihnen gibt es auch Rechtsbeuger (wenige), Karrieristen, Eitle und Selbstgefällige (schon mehr), Dumme und Faule und in einem Biotop, wo jeder jeden kennt, mag es manchmal schwierig sein, sich unredlichen Einflussnahmen zu entziehen oder sich einer breiten Mehrheitsmeinung entgegenzustellen. Dann beginnt das Recht zu verschwimmen. In der Nazizeit haben wir es gesehen.

Eine letzte Frage noch: Wollen Sie vielleicht einen deutschen Gerichts- bzw. Justizthriller empfehlen?

Den eingangs genannten Roman „Zug um Zug“; wer es etwas anspruchsvoller will: „Der Fall Deruga“; „Justiz“; und – „Uhlandgymnasium“ .

Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Fragen © Joachim Mols

Kommentieren


8 × = siebzig zwei