Archiv für November 2015

Die böse Fee hat mal kurz weggeschaut

(29.11.2015) Anwälte gehören zu den Lieblingsfiguren in Film und Fernsehen. Leider hat da die böse Fee ihre Finger im Spiel. Haben die Rollen Ähnlichkeit mit Anwälten, die mir aus der Wirklichkeit bekannt vorkommen, dann sorgt sie dafür, dass sie clever sind, aber Kotzbrocken. Sind sie wirklichkeitsnah und keine Kotzbrocken, dann sind sie meistens nicht clever. Und sind sie keine Kotzbrocken und trotzdem clever, dann sind sie fast immer Figuren aus der Retorte. Darum hat die Figur des New Yorker Anwalts James Donovan in Spielbergs tollem Film „The Bridge of Spies“ Seltenheitswert. Tom Hanks verkörpert ihn glaubwürdig als äußerst klar im Kopf, selbst wenn er seine Grippe mit Whisky runterspült. Und trotzdem sympathisch bis in die Zehenspitzen.

Aber keine Angst: auch der Kotzbrocken kommt vor. Und er kommt mir sogar ziemlich bekannt vor…

Helmut Schmidt

(11.11.2015) Helmut Schmidt war fast genauso alt wie mein Vater, der vor sechs Jahren starb. Im politischen Sinn war auch er eine Vaterfigur für mich. Einer, zu dem man zuerst bewundernd aufblickt, dem man Dinge abschaut, von dem man lernt, an dem man sich später reibt, über den man sich ärgert, zu dem man als Erwachsener noch einmal ein ganz neues Verhältnis gewinnt und über den man trauert, wenn er von einem geht. Er war Teil meiner Lebensgeschichte. Mein politisches Interesse erwachte, als er die Hamburger Flutkatastrophe managte. Er war für mich der Grund, 1974 in die SPD einzutreten. Und der, acht Jahre später wieder auszutreten – nachdem sie ihn schmählich im Stich gelassen hatte. Ich habe, mit meiner einjährigen Tochter auf den Schultern, an dem Fackelzug vor sein Haus in Langenhorn teilgenommen, als er von Kohl, Genscher und Lambsdorff abgewählt worden war. Ich habe es bewundert, wie er sich danach einer neuen Aufgabe als Publizist und scharfzüngiger Analytiker der politischen Entwicklung gewidmet hat, anstatt – wie andere Politiker – in ein Loch der Bedeutungslosigkeit zu fallen oder seiner früheren Bedeutung nachzutrauern. Die intrigante Bräsigkeit seines Nachfolgers ging ihm ebenso ab wie die Großkotzigkeit seines Nach-Nachfolgers, und im Vergleich zu der ebenfalls protestantisch-nüchternen Angela Merkel machte es einfach mehr Spaß, ihm zuzuhören. Er war ein Multitalent, ein deutscher Weltbürger, er vereinte in seiner Person die preußisch-deutschen Tugenden, die lobenswert sind: fleißig, diszipliniert, unbestechlich, mit klarem moralischem Kompass und dennoch vollkommen unsentimental. „Eine Träne im Knopfloch“, dieses Ausdrucks hat er sich häufig bedient, wenn er nicht zugeben wollte, dass er sie in Wirklichkeit doch im Auge hatte. Ich dagegen gebe es zu, ich hatte welche in den Augen, als ich gestern von seinem Tod hörte, und er war der erste Politiker, eigentlich sogar der erste Mensch, den ich nicht persönlich kannte und dem eine solche Träne von mir zuteil wurde.